Tango Argentino und Aikido

Bewegungskünste aus fernen Ländern in Deutschland

von Annette Herget

Dieser Text findet sich auch als Gastbeitrag
auf dem Blog von Gerhard Riedl.

Die Zufälle in meinem Leben wollten es, dass ich
mal jahrelang sehr intensiv Aikido trainiert
habe und später zum Tango Argentino gewechselt
bin. Einige Gemeinsamkeiten sind mir sofort
aufgefallen, einige Unterschiede aber auch
und ich habe schon oft über Vergleiche
nachgedacht. Vor einiger Zeit hat
Gerhard Riedl mich mal eingeladen, einen
Gastbeitrag zum Thema Aikido und Tango
zu schreiben. Ich habe das nicht vergessen, und
jetzt ist es endlich so weit.

Sowohl Tango Argentino als auch Aikido sind Bewegungskünste. Beide finde ich sehr faszinierend, und das liegt daran, dass es bei beiden ganz zentral um Führen und Folgen geht. Die Leser hier wissen wahrscheinlich wenig vom Aikido und mehr vom Tango Argentino, und so versuche ich hier kurz zu skizzieren, wobei es beim Aikido geht: Der „Angreifer“, „Uke“ genannt, „schickt Energie“ („Ki“), z.B. mit einem Fauststoß, der zentral auf die Mitte des Verteidigers (des sogenannten „Nage“) gerichtet ist, oder mit einer der vielen anderen möglichen Angriffsformen. Da beide vorher einen gewissen Abstand hatten, bleibt dem Verteidiger Zeit zu reagieren: Er nimmt die Bewegungsenergie auf und lenkt sie so um, dass der Angreifer aus dem Gleichgewicht gerät. Und das ganz und gar ohne Kraft. Alle Bewegungen entstehen aus der „Mitte“, also letzltich der Hüfte. Es ist im Prinzip das, was im Tango "Dissociation" genannt wird.

Fortgeschrittene Verteidiger können ihren Partner die ganze Figur hindurch haarscharf an der Grenze zur Instabilität führen, so dass sie ihn vollkommen kontrollieren. Dies ist für beide sehr lustvoll.

Wie das aussieht, zeigt hier in diesem Video Meister Katsuaki Asai, den ich von allen Lehrern in Deutschland am meisten bewundere: https://www.youtube.com/watch?v=OOsPAM2v3Ak

Eine unabdingbare Voraussetzung ist, dass beide ein ehrliches Spiel spielen, der Angreifer tut so, als ob er nicht weiß, welche Verteidungsfigur geübt wird, und so macht er keine vorbeugende Gegenbewegung. Wenn der Verteidiger einen Fehler macht, fällt der Uke natürlich nicht und so lernt der Nage, dass etwas nicht richtig war. So wie eine Folgende nicht etwas ausführen sollte, was nicht geführt wurde. Das ist z.B. beim Judo ganz anders, da gibt es Gegen- und Gegen-gegenstrategien. Deshalb gibt es im Judo Wettkämpfe, im Aikido aber nicht, denn sonst wäre die Bewegungen anders. Deshalb ist Aikido aber auch tatsächlich zur Selbstverteidigung geeignet, wenn man fortgeschritten ist. Denn ein Angreifer nachts im dunklen Park kennt die Techniken tatsächlich nicht und würde auch keine Gegenstrategien einsetzen. (Im Gegensatz zu ihm können die Aikidoschüler aber gut fallen.) Ein typische Anfängerfehler ist die zu frühe Reaktion auf eine Bewegung, die noch gar nicht stattgefunden hat, also eine Gegenstrategie. Ganz genau wie im Tango, wo häufig die Folgenden schon Bewegungen machen, die noch gar nicht geführt worden sind.

Weitere typische Anfängerfehler sind Instabilität (im Tango „fehlende Achse“), Bewegungen, die nicht aus der Mitte kommen, Kraftausübung mit den Armen, ein zu hoher Schwerpunkt mit Kippeln und Festhalten am Partner oder eine falsche Richtung der Bewegungsenergie, die immer genau auf die Mitte des Partners zielen soll. Na, Ihr Tangotänzer, kommt Euch das irgendwie bekannt vor? Da hilft nur: Üben! Mit der Zeit werden die Bewegungen immer edler, und auch immer lustvoller.

Ein ganz großer Unterschied ist aber: Im TA sollte auch die Musik führen, also Zuhören ist wichtig und wunderbar. Im Aikido gibt es keine Musik, allerdings Harmonien der Bewegung. Ich muss sagen, dass mir die Musik eigentlich das wichtigste im Tango ist, das ist wohl aber sehr individuell. Es gibt Tänzer, die sich sehr viel auf ihre tollen Künste einbilden, denen aber die Musik eigentlich schnurz ist.Wegen der Musik ist mir der Tango die schönste Bewegungskunst.

So, gehen wir mal über zu den eher soziologischen Aspekten:

Erstens, die Rollenverteilung: Es gibt Führende und Geführte, aber im Aikido lernt man beide Rollen. Beim Üben gilt die Regel: vier mal führen, also Nage sein, dann wechseln und vier mal folgen, also die Rolle des Uke übernehmen. Im Tango gibt es inzwischen auch immer mehr Leute, vor allem Frauen, die auch beide Rollen lernen, aber nicht gleichzeitig. Während ich nicht sagen kann, welche Rolle mir beim Aikido mehr lag, bin ich im Tango nun mal nur die folgende Rolle gewöhnt. Weil ich die geübt habe, kann ich mir – zu Zeit zumindest – nicht vorstellen, die Rolle zu wechseln. Wer weiß, ob sich das anders entwickelt hätte, wenn ich beide Rollen geübt hätte. Wer weiß, wenn man im Tango mal sofort einen Rollenwechsel üben würde, nur um sich einzufühlen, was die Bewegung mit dem Partner macht, da würden einem wahrscheinlich ganz andere Aspekte auffallen.

Zweitens, Partnerwechsel: Hier sind die Unterschiede eklatant. Man muß bedenken, dass Aikido seinen Ursprung in der japanischen Samurai-Szene hatte, und dort sind Ehre, Höflichkeit und Vermeidung des Gesichtsverlust extrem wichtig. Genau deshalb gibt es im Aikido nichts, was man irgendwie mit Cabeceo vergleichen könnte. Glasiges Durchsehen durch jemanden, so als ob er oder sie Luft wäre, ist absolutes No-Go und eine schlimme Beleidigung. Es gibt viele und ständige Partnerwechsel, eingeleitet durch ein Klatschen des Übungsleiters. Der Partnerwechsel dauert nur ein paar Sekunden, denn man nimmt sich einen von denen, die gerade am nächsten sind. Freundliches Lächeln, Verbeugung, alles klar! Ablehnen gibt es nicht.Alle sollten darauf achten, möglichst viele verschiedene Übungspartner zu bekommen, und zwar sowohl solche, die weniger als auch solche, die mehr können, egal ob Mann oder Frau, groß oder klein, schwer oder leicht, stark oder schwächlich oder alt oder jung. Meister Asai bat mal auf einem seiner Lehrgänge am Ende des ersten Tages darum, dass doch alle mal aufstehen sollten, die heute mit dem Soundso1, dem Soundso2, dem Soundso3 und dem Soundso4 geübt hatten. Die vier Soundsos waren seit Jahrzehnten seine besten Meisterschüler. Als niemand aufstand, weil sie nur miteinander trainiert hatten, schmiss er sie raus. Sie mussten sie ihre Sachen packen und abreisen.

Drittens, Unfallvermeidung auf der Matte bzw. auf der Piste: Sowohl auf Milongas als auch auf Aikido-Lehrgängen kann es sehr voll werden. Mal aussetzen und nur zuschauen gibt es beim Aikido nicht. Aikido ist viel dynamischer als Tango, und dauernd fliegen die Ukes in hohem Bogen in alle Richtungen durch die Gegend. Verantwortlich dafür, dass sie nicht zusammenknallen, ist natürlich der Nage, also der Führende. Er muss einen Blick dafür entwickeln, wo gerade Platz ist und was um ihn herum passiert, und den Raum adäquat nutzen. Tatsächlich ist die Unfallquote beim Aikido gering, Zusammenstöße auch auf vollen Matten sind sehr selten. Unfallvermeidung wird auch geübt, aber nicht etwa durch Bewegungsreduzierung, sondern durch Schärfung des Blicks aufs dynamische Ganze, mit Aufmerksamkeit auch auf das, was an den Rändern des Sehfeldes passiert. Eine gute Übung ist z.B. „einer gegen alle“, d.h., alle greifen einen von allen Seiten an, auch von hinten, und der Verteidiger muss zwischen den Angreifern hindurch entwischen. Er muss also einen Blick für die Bewegungen aller anderen im ganzen Raum und für die Lücken entwickeln. Das erfordert viel Konzentration und innere Gelassenheit, geht aber besser als man denkt. Diese Übung schärft den Überblick über die Gesamtsituation im Hier und Jetzt, macht außerdem viel Spaß. Es wird überhaupt viel gelacht. Eine Lücke geschickt zu nutzen ist im Aikido also eine respektable Leistung, ganz anders als in manchen Kreisen der TA-Szene, wo man sogar Überhol- und Boleo-Verbote und ausführliche Regelwerke einführen will, vielleicht demnächst sogar eine theoretische Führerscheinprüfung, damit man alle Regeln kann, bevor man auf die Piste darf. Denn ein Boleo ist wohl viel gefährlicher als die läppischen Flugrollen im Aikido (einige Falltechniken zeigt dieses Video:

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Viertens, die Eitelkeiten: Dieses Thema ist das lustigste! Und unerschöpflich und wahrscheinlich weit über diese beiden hier diskutierten Szenen hinausreichend.

Zunächst ist ja jeder eitel, ich auch. Da denkt man sich: „Ei, die Figur (die Technik) ist jetzt aber echt gut gelungen, das sah bestimmt sehr edel aus, hoffentlich hat jemand zugeguckt.“ Nur wenige geben solche Gedanken zu, ich bin mir aber sicher, dass sie weit verbreitet sind, sowohl auf Übungsmatten als auch auf Milongapisten. Ist ja nicht schlimm, und Ehrgeiz ist ja mit Eitelkeit verwandt.

Dann gibt es Hilfslehrer sowohl beim Tango als auch beim Aikido, die ständig am Partner herumerziehen wollen. Ist zwar absolut lästig und verpönt, aber es gibt sie trotzdem. Das Erstaunliche an manchen ist, dass sie außerstande sind, die Grenzen ihres eigenen Könnens zu erkennen, wobei es von der Sorte eindeutig mehr Männer und Frauen gibt. Manche sind selbst noch Anfänger und können nicht einschätzen, welche Fähigkeiten ihre Übungspartnerin hat, aber erst mal dozieren muss sein. Auch kein Unterschied zwischen Piste und Matte.

Verwandt mit denen sind die örtlichen Zampanos, die stets Bewunderung brauchen. Sie fallen durch angeberisches Schwadronieren am Rande des Übungsgeschehens auf, aber auch dadurch, dass es ihnen schwerfällt, die Leistungen anderer zu honorieren. Gerne benutzen sie nicht nur szenetypischen Jargon sondern übertreiben den auch noch völlig humorlos. Das klingt im TA eher spanisch (siehe Gerhard Riedls Milongaführer, in dem er sich darüber lustig macht: „Los Wochos“), und im Aikido natürlich japanisch: „Horst Müller Sensei hat auf seinem letzten Lehrgang gezeigt...“. Charakteristisch ist auch die völlige Humorbefreitheit, die sich – seit es Webseiten gibt – auch in Portraits zeigt, auf denen ein möglichst gurumäßiger verklärter Blick aufgesetzt wird. Böswillige würden diesen Gesichtausdruck auch als „wichtigtuerisch“ beschreiben, also im Aikido möglichst stechender Blick direkt in die Kamera, damit jeder erschüttert denkt: „Ich sehe einen echten Sensei“. Im Tango wird etwas mehr gelächelt, dafür sollen die Posen eine besondere Leidenschaft ausdrücken. Nicht fehlen darf da der Aufenthalt in der Hochburg (Buenos Aires bzw. Honbu Dojo in Tokyo), auf den natürlich oft dezent hingewiesen wird.

Eine Variante sind die, die das Dasein als Schüler nur als kurzes Zwischenspiel empfinden, weil ihre wahre Bestimmung natürlich selber Lehrer sein ist, je früher desto besser. Einher geht dies mit gnadenloser Selbstüberschätzung. Wo immer vielleicht ein Lehrer gebraucht werden könnte, melden sie sich zur Stelle. Als unser erster Tangolehrer wegen der Liebe in eine andere Stadt entschwand, meldeten sich bei seiner verwaisten Partnerin mehrere Möchtgern-Lehrer, die seine Stelle einnehmen wollten. Da konnten wir nur staunen, wer das alles war. Im Aikido ist das sehr ähnlich.

Nun ja, und natürlich spielt auch der Status eine große Rolle. Der drückt sich oft durch Kleidung aus. Im Tango darf man die selbst gestalten, und da man über Geschmack lange streiten kann, tue ich dies hier nicht. Wobei Tango Diavolo mit seiner Nähe zu einem Fetischklub sowieso speziell ist. Kleidung im Tango trägt also nicht sonderlich zum Status bei, befriedigt aber die Eitelkeit. Im Aikido ist dies strenger geregelt, die Kleidung hängt von Prüfungen ab. Es gibt einige Verbände, in denen es sogar bunte Gürtel gibt, wie im Judo, an denen man ablesen kann, wie viele Kyu-Prüfungen einer schon absoviert hat. Was das ist, erkläre ich jetzt mal nicht. Aber in allen Verbänden ist es üblich, dass die sehr Fortgeschrittenen einen japanischen Hakama tragen (in den hier vorgestellten Videos zu betrachten). Bei Meister Asai trägt man den Hakama erst ab der ersten Dan-Prüfung, vorher immer nur weiße Gürtel, damit niemand zu schnell hochnäsig wird. Bis zum ersten Dan dauert es bei ihm mindestens fünf Jahre, und in denen muss man schon ziemlich viel üben. Viele Aikido-Anfänger finden dies zu lang. Sie schließen sich lieber einem anderen Verband an, in denen man den Hakama schon viel früher tragen darf. Meister Asai hat daher eingeführt, dass seine Schüler auf ihrem Hakama das Wappen seines Hauses tragen, worauf Asai-Schüler natürlich sehr stolz sind, während die aus anderen Verbänden es als „TÜV-Plakette“ verspotten.

Damit komme ich zu meinem fünften und letzten soziologischen Aspekt: Sowohl im Tango als auch im Aikido gibt es "Schulen", deren Vertreter nicht müde werden, sich abzugrenzen, und bei denen sich mache erbitterte Diskussionen liefern. Im Aikido stammen die Unterschiede zwischen den Schulen aus Japan, woher auch die „großen Meister“ stammen. Und natürlich gibt es zwischen denen Konkurrenz und stilistische Unterschiede, die sich in die ganze Welt verbreitet haben. Jeder dieser Meistern hat natürlich einen Verband gegründet, und die Schüler dieser Meister wiederum weitere Schulen, z.T. auch in anderen Ländern. Wie genau das inzwischen in Deutschland organisiert ist, müsste ich erst wieder genau recherchieren, aber dank Internet kann das auch jeder selbst. Jedenfalls gibt es eine Reihe unterschiedlicher Schulen, die teils freundschaftlich miteinander verbunden sind, teils starke Ressentiments pflegen. Einige Schulen sind sehr erfolgreich. Das liegt daran, dass sie eine externe Finanzierung haben. Wenn jemand Privatier ist und genügend geeignete Gebäude besitzt, kann er Dojos eröffnen, Lehrer einstellen, sich selbst als Oberguru aufbauen und trotzdem günstige Preise anbieten. Oder man schlüpft bei einem öffentlich finanzierten Sportverein unter. Es gibt aber auch die Versuche, von der Tätigkeit als Lehrer zu leben. Das geht meistens schief, wenn man nicht weitere Ressourcen auftreibt oder der erste Hirsch am Platze ist. Nicht anders als im Tango.

Lustig ist, dass für manche Schüler die Zugehörigkeit zu einem Verband und zu einem Stil geradezu ihre Identität definiert, die sie wütend verteidigen. Das ist ähnlich wie das sektiererische Eifern einiger Tangotänzer für ein umfangreiches Regelwerk, das sowohl den Tanz als auch die Musik als auch die Sitten stark einschränken soll, wie man es zur Zeit in der Tangoszene beobachten kann.